"Zeit für einen Neubeginn" - mein politischer Rückblick auf 2024
"Graveyard of incumbent" nennt die "Financial Times" das Wahljahr 2024, das Jahr der weltweit meisten Wahlgänge seit 50 Jahren. 2024 war also kein genereller Rechtsruck, sondern eine Welle der Abwahl der Regierenden bei nationalen Wahlgängen. Tatsächlich verloren die Amtshaber alle nationalen Wahlgänge von Indien bis Japan. Vom Debakel der Konservativen in Großbritannien über die Schlappe der Liberaldemokraten in Japan, der Niederlage von Macrons Wahlbündnis, die Abwahl der rechtspopulistischen PIS in Polen bereits 2023 bis hin zum Sieg Donald Trumps in den USA - und wir können die Ergebnisse der Landtagswahlen in Deutschland, von Landtags- und Nationalratswahlen in Österreich hinzufügen.
Alle Regierenden verloren bei den nationalen Wahlgängen des Superwahljahres 2024. Ein bemerkenswerter Trend, kein Stein blieb auf dem anderen.
Die Stimmen flossen vielfach - aber eben nicht generell - nach rechts, etwa in Großbritannien und Polen hingegen zu Mittelinks.
"Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr", meint der Autor Amita Ghosh. Im Sog der Polykrisen ist auch das demokratische System in eine tiefe Krise geraten. Die Krisenserie von der Pandemie bis zur Klimakrise und den Kriegen hat die Welt destabilisiert, zerstört das Vertrauen in die Gestaltungsmacht der Regierenden, die großen Fragen sind nicht mehr nur national lösbar.
So entsteht in vielen Gesellschaften eine miserable Grundstimmung, ein emotionaler Giftcocktail, das Gefühl, die Zukunft verloren zu haben - und damit die größte Form der Verunsicherung.
Alle spüren, dass weiter so wie bisher keine Lösung ist, dass es Veränderung braucht.
In dieser Disruption stehen rechte Parteien vor einer einfacheren Aufgabe. Angst, Zukunftsverlust, zerstörtes Vertrauen zahlen direkt auf deren Konto ein.
Ihr Lockruf lautet daher: Abschottung, Zukunft als Rückkehr in die Vergangenheit, Veränderung durch eine Zurückdrehen der Räder und Flucht in Verschwörungstheorien.
Würde dieses Konzept verwirklicht, wäre es der programmierte Weg in eine weitere Verschärfung der Krisen und noch mehr Destabilisierung und Spaltung unserer Gesellschaften. Davon profitieren Brandstifter bei ihrem Versuch autoritäre Strukturen zu etablieren. Donald Trump zeigt dies in aller Radikalität bei der Nominierung seines Regierungsteams: Verschwörungstheoretiker mit Medienerfahrung, Abbau der staatlichen Schutzfunktionen mit Ausnahme der äußeren und inneren Sicherheit und damit noch weniger Funktionieren der Institutionen, noch weniger Gerechtigkeit, noch weniger Vertrauen, noch weniger Stabilität, noch mehr Disruption, noch mehr Sehnsucht nach scheinbar einfachen Lösungen durch autoritäre Strukturen und starke Männer. Und dazu die bisher größte Verschiebung von Vermögen.
Für alle anderen politischen Kräfte jenseits der Rechtspopulisten, Autokraten und autoritären Rechten heißt das frei nach Amita Ghosh: die bisher bekannten Wege zu Wahlerfolgen existieren nicht mehr.
Konzepte, Themenauswahl, gute Kandidat:innen, professionelle Kampagnen reichen nicht mehr.
Heute führt der Weg zu Wahlerfolgen für Mitte-Links - neben Radikaler Ehrlichkeit und authentischer Poliker:innen, die zuhören können - über eine glaubwürdige, emotionale Zukunftsansage und breite Allianzen für deren Umsetzung.
Die Präsidentschaftswahlen in den USA waren ein Lehrbeispiel: Kamala Harris war eine großartige Kandidatin, aber die Form ihrer Kampagne, das Land gegen Donald Trump zu verteidigen, erzeugte den Eindruck, den Status Quo bewahren und Veränderung verhindern zu wollen.
Es ist absurd: im Gegensatz zu Trump, der sich mit seinen Sprüchen und Provokationen als Kandidat der Veränderung positionierte, schafften es die Demokraten als traditionelle Partei des Wandels nicht, ein attraktives neues Zukunftsbild für die USA zu entwerfen und in diesem Sinn für positive Veränderung zu stehen.
Wie aber können Kräfte von Mitte-Links die erfolgreichere Opposition werden, sogar aus der Regierung heraus Wahlen gewinnen?
Wir werden Politik, politische Kommunikation und Wahlkämpfe völlig neu denken müssen.
Es wird zuallererst um gesellschaftliche Allianzen gehen. Alle jenseits der Rechten müssen lernen, thematisch immer wieder ein stückweit des Weges gemeinsam zu gehen. Ein großer Pakt von Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Zivilgesellschaft zur Umsetzung der Klimawende könnte dafür ein Beginn sein - die grüne Transformation als gemeinsames gesellschaftliches Zukunftsprojekt aller politischen Kräfte jenseits des dumpfen Rechtspopulismus.
Es wird um einen Vorrang für multilaterale Politik gehen - denn die Polykrisen sind alleine national nicht lösbar. Daher braucht es mehr Europa mit effizienteren Strukturen, mehr UNO mit weniger Blockademöglichkeiten und eine Weltklimakonferenz, die sich durch das Vetorecht nicht weiter blockiert, sondern breite Mehrheiten anerkennt.
Das alles muss mit einer neuen radikalen Ehrlichkeit erzählt werden. Dazu braucht es einen Prozess der gesellschaftlichen Aufklärung und Immunisierung gegenüber der hybriden Kriegsführung Putins mit seinen Versuchen der Destabilisierung demokratischer Strukturen.
Es wird ganz stark um einen neuen Umgang in der Politik, um eine neue positive Kommunikation gehen, die nicht alleine das Negative, den täglichen angeblichen Skandal, die tägliche Empörung und Aufregung in den Mittelpunkt der medialen und politischen Auseinandersetzung rückt, sondern genauso auch Erfolge, Respekt, Lösungen, Best Practice Beispiele, die Hoffnung machen.
Vor allem aber werden wir attraktive Zukunftsbilder, emotionale Visionen und Utopien brauchen. Willy Brandt war vermutlich der letzte, der damit in Europa Mehrheiten schaffen konnte.
Denn die Vorstellung von einem guten Morgen ist der Mehrheit der Bevölkerung wichtiger als Vergangenheit und Gegenwart, zeigen internationale Analysen.
Das ist eine Chance.
"Wir Menschen", schreibt Jakob Biazza in der Süddeutschen Zeitung, "sind Geschöpfe, denen wenig bleibt, wenn die Perspektive fehlt".
Die Voraussetzung für politische Erfolge ist daher die Erarbeitung attraktiver Perspektiven. Wir brauchen ein klares, verständliches Bild einer guten Zukunft, das wir mit Emotion positiv kommunizieren.
Das wird eine neue Politik, die uns allen guttut. Dafür braucht es viele - in Politik, Medien, der gesamten Gesellschaft.
Das Ende des schwierigen politischen Jahres 2024 darf daher nicht Resignation bewirken, sondern einen Neubeginn einer neuen politischen Kultur, die anstatt des kleinkarierten parteipolitischen Hickhacks das Miteinander, den Zusammenhalt und das Schaffen und die Umsetzung einer gemeinsamen attraktiven Perspektive in den Mittelpunkt rückt.