Zu Besuch bei einer ME/CFS-Erkrankten
Gestern war ich wieder einmal mit dem Zug unterwegs - direkt in die ländlichen Gebiete Niederösterreichs. Mein Ziel ist mit den Öffis gut erreichbar, zeigt mir ein Blick in den Scotty-Planer.
Ich bin aufgebrochen, um eine ME/CFS-Patientin zu besuchen, die mich eingeladen hat. Obwohl ich überpünktlich bin, öffnet Frau S nach meinem Klopfen rasch die Tür ihrer liebevolle ausgestatteten Altbauwohnung. Wir setzen uns und ich sehe eine Frau vor mir, die seit ihrer Covid-Infektion im Jahr 2021 ein richtiges Martyrium hinter sich gebracht und sich doch auch ein wenig Hoffnung bewahrt hat.
S. berichtet von ihren heftigen Symptomen, von den unzähligen Besuchen bei Ärztinnen und Ärzten, die ihr nicht helfen konnten, die oft wenig bis kein Wissen über ME/CFS hatten, von den ganz wenigen, hoch engagiertenNeurologen, die sich spezialisiert haben und entsprechend überlastet sind. Sie berichtet von ihrer Reha, die kontraproduktiv war, sie berichtet von der Traumatisierung durch einen Spitalsaufenthalt.
Ihre Schwester, die sie unterstützt, nickt und ergänzt.
Was wäre mit Frau S, wenn sie ihre großartige Schwester nicht hätte?
Ich habe ähnliche Schilderungen von Betroffenen bereits gelesen oder von Dritten gehört, aber es ist erstmals, dass ich längere Zeit mit einer Betroffenen verbringen kann. Ich würde dies vielen Entscheidungsträgern wünschen.
Die Schilderungen mit klaren einfachen Sätzen machen mich betroffen. Wie ist es möglich, dass in einem der reichsten Länder der Welt, das Gesundheitssystem noch keine flächendeckende qualifizierte Betreuung für die laut Schätzungen 80.000 Betroffenen aufgebaut hat?
Eine Stunde ist vorbei, wir haben langsam und einfühlsam, aber sehr gut miteinander gesprochen, erstmals scheinen einige Medikamente zu wirken.
Ich verabschiede mich von einer Frau, die sich trotz Höllenqualen, die sie durchgemacht hat, ein Leuchten in den Augen hat, als sie mir noch von ihrem bisher größten Erfolg berichtet: in den Garten zu gehen, eine Blume für die Wohnung zu pflücken und auch den Rückweg zu schaffen.
Diese Erzählung und das Leuchten ihrer Augen bei dieser Erzählung geben auch mir Mut.
Wir müssen es endlich schaffen, dass in Österreich flächendeckend eine Betreuungsstruktur aufgebaut wird. Der Gesundheitsminister hat nun die Weichen für ein Referenzzentrum gestellt, in dem das wissenschaftliche Know-How aufgebaut werden soll; gleichzeitig wird an einem Nationalen Aktionsplan gearbeitet. Was jetzt wichtig ist: jedes Bundesland muss in seinem Bereich ein Kompetenzzentrum schaffen, Betroffene müssen sozial gut abgesichert werden, Ärzt:innen und Gutachter:innen benötigen eine gute Aus- und Weiterbildung, um zu wissen, wie man mit ME/CFS umgeht.
Die Dringlichkeit dieser Maßnahmen ist mir durch das Gespräch mit Frau S noch einmal deutlicher geworden.
Es ist höchste Zeit, die Zeit drängt.